Die ersten sechs bis sieben Lebensjahre prägen einen Menschen bis ins tiefste Alter. Aus Kindern werden Erwachsene und diese sitzen irgendwann als (potenzielle) Unternehmerkunden vor Ihnen am runden Tisch – und denken doch im Grunde immer noch so, wie sie es in jungen Jahren gelernt haben. Das haben wir letzte Woche bereits festgestellt, als wir uns im ersten Teil der großen Sommerserie des Versteher-Magazins mit den Unternehmerjahrgängen der 1940er- und 1950er-Jahre auseinandergesetzt haben. Und mit der Frage, wie die Entbehrungen der Nachkriegszeit sowie der anschließende Wirtschaftsboom bis heute ihre Unternehmertypologie beeinflussen.
Heute möchte ich mit Ihnen einen Schritt in die Zukunft von damals gehen: Stellen Sie sich einen Unternehmerkunden vor, der zwischen 1960 und 1979 aufgewachsen ist. Vielleicht hat er seine Firma nach der Kindheit selbst gegründet, vielleicht hat er sie auch geerbt. Möglicherweise sogar von seinen Eltern, die sie erst in den 1950ern oder 1960ern gegründet hatten. So oder so, eines ist sicher: Die Kindheit dieses späteren Unternehmers verlief vollkommen anders als in der vorhergehenden Generation.
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Sozialer Umbruch in den Sechzigern
Die 50er-Jahre gelten heute als die Geburtsstunde des deutschen Wirtschaftswunders – doch auch wer erst Anfang der 1960er geboren wurde, der bekam noch ein großes Stück vom Kuchen ab. Denn die 60er-Jahre waren nicht nur die Zeit der langen Haare und Schlaghosen, sondern auch der weiter steigenden Wirtschaftskraft und des damit einhergehenden relativen Wohlstands breiter Bevölkerungsschichten in der jungen Bundesrepublik. Kurz: Die Kinder der frühen 1960er erlebten das langsame Aufbrechen alter, starrer Sozialnormen und verfügten gleichzeitig über den Wohlstand, um die wachsende persönliche Freiheit auszukosten.
Das soll natürlich nicht bedeuten, dass die Kinder von damals absolute Freiheit genossen. Ihre Eltern waren ja noch in den 30ern oder 40ern aufgewachsen – und haderten allein schon mit dem Gedanken, ihre Söhne könnten sich ihre Koteletten bis unter die Ohrläppchen wachsen lassen und ihre Töchter würden die Rocksäume bis oberhalb der Knie tragen. Aufseiten der älteren Generation, die Politiker, Medienschaffende, Ordnungsmacht und Wirtschaftsführer stellte, herrschte also noch immer ein Level an sozialer Restriktion, der bereits unseren Kindern heute fast nicht mehr begreifbar zu machen ist.
Quelle: Friedrich Haag
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Zwischen Eltern und Geschwistern
Kindheit in den 1960ern war demnach in vielen Fällen ein Konflikt zwischen den Werten der älteren Generation – harte Arbeit, Disziplin und Ordnung – und den Ideen der Nachkriegsjugend – persönliche Freiheit und soziale Gerechtigkeit. Für diejenigen, die in den Fünfzigern geboren und in den Sechzigern bereits zu Jugendlichen herangewachsen waren, zeigte sich das Jahrzehnt als Zeit der politischen Selbstfindung. Viele realisierten zum ersten Mal das wirkliche Ausmaß der Verbrechen der Nazi-Zeit, die der öffentliche Diskurs der direkten Nachkriegszeit weitgehend zu ignorieren versucht hatte. Mit einem Mal wurde den jungen Menschen in der Bundesrepublik klar, dass altgediente Nationalsozialisten noch immer als Richter, Lehrer, Professoren, hochrangige Polizisten oder sogar Politiker den Ton angaben.
Wer erst Anfang der 1960er geboren wurde, war an dem dadurch entstehenden Generationenkonflikt vielleicht noch nicht aktiv beteiligt, nahm ihn jedoch passiv wahr. Stellen Sie sich vor, Sie sitzen als Achtjähriger am Esstisch der Familie, während der Vater und der große Bruder sich heftig über den Marxismus als Gesellschaftsordnung streiten. Das geht nicht spurlos an Ihnen vorüber. Und egal, ob Sie dann eher für den Vater oder den Bruder Partei ergreifen, Sie erlernen in dieser Zeit vor allem Resilienz und die Fähigkeit, die eigene Meinung durchzusetzen und zu verteidigen. Eventuell lernen Sie sogar eine gewisse generelle Streitbarkeit, die man noch heute bei Unternehmern dieser Generation beobachten kann.
Das Wirtschaftswunder hält (noch) an
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Wie bereits erwähnt würde es noch einige Jahre dauern, bis der Wirtschaftsboom in der Bundesrepublik das erste Mal ins Stocken gerät (Rezession 1966/1967) und schließlich mit Anbrechen der 1970er-Jahre endgültig Fahrt verliert. In den 60ern wuchs die Wirtschaft noch: In zehn Jahren hatte sich das Bruttosozialprodukt der 50er auf knapp 300 Milliarden D‑Mark Ende der 60er verdoppelt und die Arbeitslosenquote betrug 1969 lediglich 0,8 Prozent. Seit Mitte der 50er-Jahre warb die Bundesregierung sogar aktiv Menschen aus anderen Ländern an, um dem innerdeutschen Markt ausreichend Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen.
Für die Kinder von damals war es in den meisten Fällen unvorstellbar, dass ein (männliches) erwachsenes Mitglied der Familie keinen Beruf ausübte. Und es war genauso unvorstellbar, dass die erbrachte Arbeit nicht ausreichend entlohnt würde. Dieser Lohn war damals immerhin hoch genug, dass eine vierköpfige Mittelstandsfamilie mit nur einem arbeitenden Erwachsenen gut über die Runden kam. Mindestens einmal im Jahr wurde Urlaub gemacht – dann am liebsten in Italien oder Spanien in der Sonne. Ein eigenes Auto besaß der typische Mittelstands-Haushalt bald ebenso wie einen Schwarzweiß-Fernseher. Nur für ein eigenes Telefon musste man sich Anfang der 60er noch ein wenig gedulden: Die „Fernsprechtischapparate“ und entsprechende Anschlüsse waren zunächst teuer und mussten von Mitarbeitern der Deutschen Bundespost persönlich installiert werden.
Der Jahrgang 1960 war zwar noch weit von der Digitalisierung entfernt, wie wir sie heute kennen, doch die Kinder von damals machten früh erste Erfahrungen mit Elektro- und Kommunikationstechnik, die in der einen oder anderen Form heute noch existiert. Vergleichen Sie das Mindset eines Kindes aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, für das das Telefon noch einen unglaublichen Fortschritt gegenüber der langsamen Briefpost darstellte, mit dem Blickwinkel eines Kinds der 60er-Jahre, für das die Entwicklung des Smartphones zumindest eine Fortführung bekannter Prinzipien ist.
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Die fetten Jahre sind vorbei …
Nach heutiger Lesart ist das deutsche Wirtschaftswunder im Jahr 1970 definitiv vorbei. Als echte Zäsur gilt jedoch vor allem der Jom-Kippur-Krieg im Oktober 1973. Im Zuge des Konflikts zwischen Israel, Ägypten, Syrien und mehreren weiteren Staaten senkten die arabischen erdölexportierenden Staaten der OAPEC ihre Fördermenge um 5 Prozent, wodurch der Ölpreis von etwa 3 Dollar pro Barrel auf 12 Dollar im Folgejahr stieg. Die deutsche Wirtschaft, die noch 1971 von der Freigabe des Wechselkurses zwischen D‑Mark und Dollar profitiert hatte, spürte den steigenden Ölpreis sofort: Es kam zur sogenannten „Stagflation“, einer ungünstigen Kombination aus Stagnation des Wirtschaftswachstums und einer hohen Inflationsrate der D‑Mark.
All dies hat greifbare Auswirkungen auf die Kindheit in den 1970ern: Waren in den 50er-Jahren die Schlagworte noch Vollbeschäftigung und Wirtschaftswunder, kam es jetzt vermehrt zu Sonntagsfahrverboten – also dem staatlichen Verbot, an Sonntagen mit dem Auto zu fahren, um die vorhandenen Treibstoffreserven zu schonen. Die Arbeitslosenquote stieg von 0,8 auf 4,7 Prozent im Jahr 1975. Genau wie in der Finanzkrise ab 2007 lernten die Kinder der 1970er: Der Markt ist abhängig von weltweiten Entwicklungen – und kann auch mal ganz ohne eigenes Verschulden einbrechen.
Quelle: Bundesarchiv, B 145 Bild-F040733-0002 / Schaack, Lothar / CC-BY-SA 3.0
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… doch der Fortschritt bleibt unaufhaltsam
Für die Kinder der 1970er-Jahre bedeutete dies, dass ihre Eltern mit deutlich mehr finanziellen Sorgen und Nöten zu kämpfen hatten als noch 10 Jahre zuvor. Das änderte jedoch nichts daran, dass die durchschnittliche deutsche Familie noch immer über einen hohen Lebensstandard verfügte. Dass im Zuge der Ölkrise überhaupt Sonntagsfahrverbote ausgesprochen werden mussten, lag auch daran, dass der typische Haushalt mittlerweile fast garantiert über mindestens ein eigenes Auto verfügte. Auch die ersten erschwinglichen Farbfernseher gehörten bald zur Grundausstattung der meisten Haushalte.
Darüber hinaus zeichnet sich eine neue Entwicklung ab: 1975 trat der Altair 8800 die digitale Revolution los. Der weltweit erste „Personal Computer“ für den Heimgebrauch war deutlich praktischer als die zimmerhohen Computer, mit denen an den Universitäten experimentiert wurden – aber selbstverständlich für die meisten Familien auch noch unerschwinglich, zumal in Deutschland. Doch wer in den 1970ern aufgewachsen ist, hat diese Entwicklung zumindest über Zeitschriften mitbekommen. Es entwickelt sich ein gesellschaftliches Interesse an digitaler Technologie, das viele Kinder dieser Generation in den 80ern dazu bringen wird, sich mit Heimgeräten wie dem Schneider CPC auseinanderzusetzen. Der Jahrgang 1970 ist also in mancher Hinsicht der erste Jahrgang späterer Unternehmer, der auf ganz natürlichem Weg einen Zugang zu den Prinzipien der digitalen Welt gefunden hat.
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Auf halbem Weg in die moderne Welt
Die Kinder der 1960er und 1970er sind diejenige Generation deutscher Unternehmer, die nach dem beispiellosen Wirtschaftsboom der 1950er-Jahre zunehmend auf den Boden der wirtschaftlichen Tatsachen zurückgeholt wurden. Und sie werden in späteren Jahren zu Unternehmern werden, die wirtschaftlichen Herausforderungen rational und kämpferisch begegnen werden. Ich hoffe, dass Sie einen kleinen Einblick in die Vergangenheit dieser Menschen erhalten haben und Ihnen dieser Hintergrund hilft, Ihr Gegenüber bei den anstehenden Beratungsgesprächen noch besser zu verstehen.
Kommende Woche kehren wir dann nicht nur wieder in die Gegenwart zurück, sondern liefern auch einen Ausblick in die direkte Zukunft – und wie Sie die Erkenntnisse aus den frühkindlichen Erfahrungen Ihrer Unternehmerkunden verwerten können, um nach der Sommerpause effektiv durchzustarten. Bis dahin möchte ich Ihnen empfehlen: Lassen Sie sich von den Unternehmergenerationen inspirieren, die wir heute und in Teil 1 besprochen haben, und genießen Sie den Sommer, auch wenn er ein bisschen verregneter ist als in den vergangenen Jahren.
Ihr Dirk Wiebusch
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Dirk Wiebusch
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