Regelmäßige Leser des Versteher-Magazins wissen: Ich liebe Sport-Analogien! Warum auch nicht? Schließlich demonstriert kaum ein anderer Bereich die Wechselwirkungen zwischen menschlicher Psychologie und Höchstleistungen sowie Erfolg und Teamgeist so klar verständlich wie der Sport. Doch dieses eine Mal muss ich mit einem bekannten Credo brechen, das insbesondere im Zuge der Olympischen Spiele wieder in aller Munde ist: „dabei sein ist alles“. Dieses Motto ist ungemein inspirierend für die vielen olympischen Sportler, die sich neben dem normalen Beruf noch als Beste ihres Landes qualifiziert haben und in Olympia zeigen konnten, was in ihnen steckt. Doch gilt dasselbe auch im Berufsleben?
Ambitionierte, realistische Ziele zu erreichen – das ist der Anspruch
Im Taumel der beeindruckenden sportlichen Leistungen aus Tokio wird in Social Media aktuell wieder der Sinnspruch „dabei sein ist alles“ vom olympischen Gedanken zum Lebensmotto umdefiniert. Ob in der Beziehung oder im Beruf, man soll stolz darauf sein, überhaupt Teil von etwas gewesen zu sein – auch wenn man letztlich keines seiner Ziele erreicht hat. Oder sich, unter dem Eindruck dieses Mottos, vielleicht gar keine Ziele gesetzt hatte. Genau entgegengesetzt gibt es dann noch diejenigen, die meinen, dass es einfach reicht, sich eigene Ziele zu setzen, man müsse sich nur fokussieren und dann geht alles von selbst. Dabei wird aber außen vor gelassen, dass die meisten Arbeitnehmer (und eben auch viele Unternehmer, Selbstständige, Freiberufler und Solo-Selbstständige) in mitunter engen täglichen Korsetts stecken.
Schauen Sie sich Ihre Top-Unternehmerkunden an, und Sie werden schnell feststellen: Bei diesen herrscht nicht das Motto „dabei sein ist alles“, sondern „winner takes all“. Zumindest unter den 5 von 500 Unternehmern, die statistisch gesehen auch 20 Jahre nach der Existenzgründung noch aktiv sind. Diesen Menschen geht es darum, das beste Restaurant aufzubauen, die besten Produkte zu verkaufen oder auch einen Impfstoff in Rekordzeit zu entwickeln. Sie haben eine Vision und setzen sich realistische Ziele, die ambitioniert, aber nicht utopisch sind. Und wenn sie ihr Ziel erreicht haben, dann hören sie nicht einfach auf, sondern setzen sich darauf aufbauend neue Ziele. Denn was viele vergessen: „dabei sein ist alles“ ist zwar der olympische Gedanke, doch wer es überhaupt bis in die Arena geschafft hat, der hat vorher mindestens 4 Jahre hart trainiert mit dem klaren Ziel, es bis nach Olympia zu schaffen. Und warum sollte man sich dann nicht noch das neue Ziel setzen, es bis auf die Siegertribüne zu schaffen? Oder wie es der weltberühmte Balletttänzer Rudolf Nurejew mal ausdrückte: „Besessenheit ist der Motor, Verbissenheit ist die Bremse.“
In vielen Artikeln und Podcasts vergleiche ich die Zusammenarbeit in der Beratung von Unternehmern und deren Familien sowie Firmen mit einer Mischung aus Sendung mit der Maus, Löwenzahn und Sesamstraße. Immer wieder aufs Neue bin ich begeistert von Betriebsbesichtigungen, um darin Dinge zu sehen und zu lernen, die nahezu allen anderen Menschen verwehrt bleiben. Und diese außergewöhnlichen Menschen bei der Umsetzung ihrer Ideen und Visionen zu begleiten, das finde ich faszinierend. Aber das ist mein Antrieb. Welcher ist Ihrer?
Was treibt Sie an – und was treibt Ihre Kunden an?
Schauen Sie sich Profi- oder Amateursportler an, dann lassen sich verschiedene Verhaltensweisen beobachten: Es gibt diejenigen, die in ihrem Leben genau einmal den Grand Slam, die Formel-1-Weltmeisterschaft oder den Europapokal gewinnen und dann aufhören – sowie diejenigen, die diese Leistung immer wieder erbracht haben. Oder eben diejenigen Olympioniken, die es bis nach Olympia schaffen, und diejenigen, die dann außerdem noch eine Medaille gewinnen. Auf Beraterseite unterscheiden wir analog diejenigen, die jeden Tag pflichtbewusst zur Arbeit gehen, von denen, die das Spiel mit dem Unternehmer wirklich lieben. Diejenigen, die genau wissen, was sie wollen: Unternehmer-Versteher zu werden!
Lassen Sie uns ein Beispiel betrachten: Stellen Sie sich einen Firmenkundenberater vor. 42 Jahre alt, verheiratet, 2 Kinder, eigenes Haus und seit 2 Jahren im Institut mit dem Top-Kunden-Segment betraut. Dieser Berater hat es mit Anfang 40 „geschafft“. Er hat ein ordentliches Einkommen und betreut die größten und wichtigsten Kunden, die zu mind. 95 % auch in den nächsten Jahren noch die größten, wichtigsten und ertragreichsten Kunden beim Institut und bedeutende Unternehmen und Arbeitgeber in der Region sein werden. Er geht bei seinen Führungskräften und Vorständen ein und aus, hat alle bekannten Risiken im Griff, kennt seine Kunden und macht gute Erträge. Gleichzeitig hat der Berater keine Ambitionen, in die Führungsetage zu wechseln, da er sich in seiner aktuellen Situation eigentlich so weit wohlfühlt, wenn er auch im alltäglichen Trott in eine gewisse Lethargie verfällt.
Fragen Sie sich selbst: Was treibt einen solchen Berater überhaupt noch an? Warum geht er jeden Morgen pünktlich zur Arbeit, wenn er doch kein höheres Ziel verfolgt, als nur jeden Tag dieselben Arbeitsabläufe zu wiederholen? Denn machen wir uns nichts vor: Diese Abläufe sind aufgrund gesetzlicher Rahmenbedingungen, institutsinterner Bedingungen, Anweisungen, Ablaufpläne etc. weitgehend unveränderlich. Im Gegensatz zum Unternehmer bekommt der Berater sogar seine Zielsetzung vorgegeben. Vielleicht hat der Berater sogar in der Vergangenheit erlebt, dass diese Zielsetzung jedes Jahr auf Basis des erfüllten Ziels erhöht wurde – nicht auf Basis des im Vorjahr gesteckten Ziels. Wenn also das Ziel – simplifiziert ausgedrückt – 100 war und der Berater 110 erreicht hatte, dann wurde das Ziel im kommenden Jahr auf 115 gesetzt, nicht auf 105. Es handelt sich also um eine externe Zielvorgabe, die noch dazu eine Übererfüllung gefühlt „bestraft“. Da ist Unruhe selbstverständlich vorgeplant. Um wieder auf den Sport zurückzukommen: Das ist, als ob ein Verein z.B. die Champions League als Ziel ausruft, der Kader selbst dieses Ziel für sich jedoch gar nicht definiert hat. Das wird zu einem ewigen Kampf um die Leistungsfähigkeit.
Was treibt diesen Berater also an? Die Rahmenbedingungen machen ihm wahrscheinlich keinen Spaß und das, was ihm Spaß macht – meistens ist das der Kundenkontakt –, ist oft nur ein Bruchteil seines Alltags.
Das Ziel ist Teil einer Vision
Die Herausforderung für diesen exemplarischen Berater ist, dass Finanzinstitute oft immer noch nicht klar definieren, wofür sie stehen und was sie erreichen wollen. Es fehlt entweder eine Vision, oder die Vision wird den Mitarbeitern nicht ausreichend vermittelt. Top-Unternehmen oder Top-Institute zeichnen sich nämlich vor allem dadurch aus, dass sich oft vom Vorstand bis zum einzelnen Mitarbeiter dieselbe Vision durchzieht. Man identifiziert sich mit der Firma, deren Aufgaben, Produkten und Bestimmungen – und arbeitet gemeinsam auf ein nachvollziehbares Ziel hin.
Als Gegenbeispiel fällt mir da die Jahresauftaktveranstaltung eines Finanzinstituts ein, zu der ich mal als Speaker gebucht war. Da warf der Vorstand dann seinen Mitarbeitern Zahlen und Fakten entgegen mit dem (nachfolgend stark verkürzten) Tenor: „Trotz widriger Umstände XY haben wir im vergangenen Jahr ein gutes Ergebnis (wahlweise: Rekordergebnis, bestes Ergebnis seit … usw.) erzielt, müssen aber im kommenden Jahr (aufgrund von XYZ) noch mehr Erträge erwirtschaften, um nicht auf der Strecke zu bleiben.“ Und die Mitarbeiter saßen gelangweilt im Auditorium und hätten fast jedes Wort mitsprechen können, weil sie das Ganze schon aus dem Vorjahr und dem davor und dem davor kannten – die Vision des Vorstands und die von ihm vorgegebenen Zielsetzungen jedoch gar nicht teilten.
Deshalb geht an dieser Stelle auch mein Aufruf an alle Vorstände und Führungskräfte: Holen Sie Ihre Mitarbeiter stärker ab! Vermitteln Sie ihnen eine Vision davon, was das Institut erreichen möchte, und bringen Sie sie mit an Bord. Vertrauen Sie nicht lediglich auf von Ihnen vorgegebene Ziele, sondern sorgen Sie dafür, dass Ihre Mitarbeiter sich selbst entsprechende Ziele setzen, da sie aus eigener Motivation der gleichen Vision entgegenarbeiten. Ihre Mitarbeiter brauchen etwas, für das es sich auch emotional lohnt, jeden Tag aufzustehen, zur Arbeit zu gehen und sich dabei als Teil einer größeren Sache zu fühlen. Wohlgemerkt: Nichts ist rosarot zu beschönigen. Es gibt gute Tage, es gibt schlechte Tage, es gibt Erfolge und auch ganz heftige Misserfolge. Aber wenn man ein „Warum“ hat, wird es zumindest leichter, damit umzugehen.
Nur dabei zu sein, ist eben doch nicht alles
Zum Abschluss möchte ich noch mal auf unsere Sport-Analogie zurückkommen: Wenn Sie nach dem Motto handeln „dabei sein ist alles“, Hauptsache, Sie verdienen Ihre Brötchen im Alltagstrott, dann sind Sie mit 40 eigentlich schon am Ende Ihrer Karriere angelangt. Und dann haben Sie noch 20+ Jahre zu arbeiten, bis Sie in den Ruhestand gehen. Das sind bei 250 Arbeitstagen im Jahr insgesamt 5.000 Tage, an denen Sie Ihre Arbeit machen, ohne ein konkretes Ziel oder auch nur eine übergreifende Vision zu verfolgen.
Fragen Sie sich als Beraterin oder Berater also: Was treibt mich eigentlich an? Was ist mein Ziel – und passen die aktuellen Rahmenbedingungen meines Arbeitsalltags überhaupt zu dieser Zielsetzung? Ich verspreche Ihnen: Der Unternehmer, der Ihnen im Gespräch gegenübersitzt, der weiß genau, was ihn antreibt. Und er merkt, wenn Sie mit der gleichen Zielstrebigkeit an das Gespräch herangehen – so ist schnell ein beiderseitiger Respekt geschaffen, denn Sie demonstrieren ihm, dass Sie noch ein Stück besser „unternehmerisch sprechen“. So werden die Gespräche nicht nur ertragreicher, sondern auch für Sie langfristig spannender. Ich wünsche Ihnen schon heute viel Spaß bei der Selbstfindung und den tollen Gesprächen, die sich daraus entwickeln werden.
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Dirk Wiebusch
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