Schon zum Ende der Corona-Shutdown-Zeit habe ich an dieser Stelle ausgeführt, dass die Insolvenzen im deutschen Mittelstand definitiv kommen werden, aber mit Zeitverzögerung – nicht als plötzliche Explosionen, sondern als schleichende Kaskadeneffekte. Genau eine solche Situation zeichnen die leisen Verschiebungen der letzten Monate ab: Zahlungsziele werden vermehrt später bedient, Bestellungen bleiben aus oder kommen kurzfristig, Abrufe der Auto-OEMs werden unzuverlässiger und die Lagerbestände wachsen an, da Kundenprojekte verschoben werden.
Aufseiten der Banken sorgen Regulatorik, Eigenkapitalvorgaben, Branchenlimits und automatisierte Systeme für noch größere Zurückhaltung – schließlich ist der Spielraum begrenzter denn je. Bei den Unternehmen hört man mittlerweile die Einschläge näherkommen. Aktuell noch in Form kleiner Einzeleffekte, die es immer schwerer machen, einen klaren Auslöser für die dahinschmelzende Liquidität auszumachen. Doch es ist absehbar, dass die größeren Einschläge noch kommen werden. Darum ist es so wichtig für beide Seiten, jetzt stabilisierend zu agieren, statt lediglich abzuwarten.
Unternehmen unter dem Gewöhnungseffekt
Warum tun viele Unternehmer und kreditgebende Institute noch nichts in der Breite der Kundschaft gegen diese vereinzelten Einschläge, die ja nur Vorboten größerer Ereignisse sein werden? Weil wir uns langsam an diesen Zustand gewöhnt haben. Deutschland befindet sich seit Jahren in einer Phase struktureller Schwäche: Umsätze stagnieren, Margen schrumpfen, Investitionen werden aufgeschoben. Ein klarer Wendepunkt war bislang noch nicht zu erkennen. Und so verbleibt man – vermeintlich sicher – in einem Grundzustand der Vorsicht.
Doch gleichzeitig verzerrt dieser Zustand unsere Wahrnehmung für kritische Grenzen. Schleichende Erosionsprozesse im Hintergrund werden nicht rechtzeitig erkannt und die Wirtschaft als Ganzes erscheint äußerlich noch stabil genug, auch wenn sie innerlich schon langsam zerfällt. Das Risiko: Wenn das Fundament erst so zermürbt ist, dass mehrere Branchen gleichzeitig ins Rutschen geraten, dann gibt es vielleicht kein Halten mehr.
Die Autoindustrie als systemischer Multiplikator
Deutschland ist Autoland – und darum wird die Automobilindustrie einer der großen Multiplikatoren sein, wenn die Einschläge erstmal direkt über unseren Köpfen sind. Hier wird schon heute kurzfristiger geplant und Investitionen werden verschoben. Für die großen Hersteller ist das unangenehm – doch für Zulieferer mit 50 bis 500 Mitarbeitern ist es existenzbedrohend.
Diese hochspezialisierten Unternehmen sind häufig auf planbare Volumina und laufende Cashflows angewiesen. Und sie haben flächendeckende Unruhen an den Märkten seit Jahren nicht erlebt. Und so wird die Automotive-Industrie zum systemischen Multiplikator: Wackelt es an der Spitze, können sich an der Basis Risse bilden. Dazu kommt das aktuelle Schwächeln in den Bereichen Maschinenbau, Kunststoffe, Metallverarbeitung und Bau.
Wenn die Liquidität schmilzt: Linienauslastung, Zwischenfinanzierung, Umschuldung
In den Firmenkundenbereichen vieler Banken zeigt sich aktuell ein klares Muster: Die Liquidität der Unternehmer steht zunehmend unter Druck. Kontokorrentlinien sind zunehmend keine Reserve mehr, sondern operatives Werkzeug. Zwischenfinanzierungen werden häufiger und auch größer, was auf steigende Kapitalbindung hindeutet. Parallel gibt es mehr Umschuldungsanfragen. Viele Unternehmer möchten Verbindlichkeiten strecken oder in langfristige Strukturen überführen. Die Tendenz: Liquidität regeneriert nicht mehr „automatisch“ und finanzielle Puffer verschwinden schneller als gewohnt.
Automatische Systeme verengen den Spielraum für Unternehmen
Dazu kommt, dass die Kreditgeber des Unternehmers heute stark automatisierte Risikosysteme nutzen. Nutzt man dann als Unternehmer 70 % oder mehr der Kontokorrentlinie, wird automatisch eine Risikoanalyse angestoßen – obwohl der Berater, der den Unternehmer vielleicht schon seit 20 Jahren kennt, eine ganz andere Einschätzung hat.
Automatisierte Systeme kennen kein „persönliches Ermessen“. Das erhöht das Risiko für Unternehmer, als risikobehaftet eingestuft zu werden – ein Automatismus, den diese vielleicht noch gar nicht kennen, da sie ihre Kontokorrentlinie bislang noch nie ausgenutzt haben. Und nun wird dieser Spielraum plötzlich enger – nicht schleichend, sondern binär-algorithmisch.
Die Bankenseite: Aufsichtsdruck, Verbände und harte Eigenkapitalanforderungen
Der regulatorische Druck offenbart sich jedoch nicht nur aufseiten der Unternehmen, sondern auch bei den Banken: Die Aufsicht (Verbände und BaFin) beäugt gefühlt jede Kreditentscheidung regulatorisch – und lässt Erfahrungswerte der Berater bei der Beurteilung der Unternehmen in immer geringerem Maße in die Beurteilung einfließen.
Die Prüfungen werden immer intensiver und kritischer gegenüber Abweichungen. Und das in einer Situation, in der Banken negative Entwicklungen kaum noch über Neugeschäfte kompensieren können, da Märkte stagnieren und Investitionen ausbleiben. Erhöhungen von Linien oder Engpassfinanzierungen wirken da wie Eingriffe in die Stabilität des eigenen Hauses.
Banker im Überwachungsmodus
Die heutige Echtzeit-Transparenz von Kreditinstituten erzeugt sofortigen Klärungsbedarf bei unterschiedlichen Risikobewertungen – z. B. gegenüber Bankenaufsicht und Verbänden. Die Eigenlogik ergibt dann, dass eines der beiden Institute falsch liegen muss. Eine Erhöhung muss deshalb häufig mit deutlichem Mehraufwand dokumentiert und gerechtfertigt werden. Daher scheuen Regionalbanken Erhöhungen, wenn größere Institute gleichzeitig bremsen. Das System toleriert kaum noch Abweichungen, wodurch sich das Marktverhalten automatisch angleicht.
Wenn Bank A reduziert und Bank B nicht nachlegen darf
Daraus ergibt sich ein typisches Doppel-Dilemma: Die Kreditgeberbank A reduziert ihre Linien branchensystemisch, nicht bonitätsbedingt. Der Unternehmer geht also zu seiner zweiten Bank, um diese Kürzung auszugleichen. Doch Bank B kann nicht erhöhen, weil die Aufstockung technisch als Neugeschäft gilt – mit höherer RWA-Belastung, härteren Limits und sofortigen Warnsignalen. Das heißt:
- Bank A reduziert, weil die Modelle es verlangen
- Bank B kann nicht erhöhen
- Es bleibt ein akutes Liquiditätsloch beim Unternehmen
Die innere Logik der Banken: Jede Million Abschreibung frisst 50–80 Millionen Neugeschäft
Banken, Sparkassen und Genossenschaftsbanken stehen vor einer asymmetrischen Ertragslogik: Eine Million Euro Wertberichtigung erfordert 50 bis 80 Millionen Euro neues, margentragendes Kreditgeschäft zur Kompensation. Auf dem aktuellen Markt kaum erreichbar – und eine einzige riskante Entscheidung kann das gesamte Jahresergebnis mitunter erheblich belasten. Neben den bisher schon vorhandenen Problemen in der Baubranche kommen nun Risiken in den Unternehmensfinanzierungen und Insolvenzen hinzu.
Die Konsequenz: Banken bleiben vorsichtig und die Kreditvergabe wird nicht nur Bonitäts‑, sondern auch Ertragsfrage, da das System negative Effekte sofort, aber positive kaum abbildet.
Die zusätzliche Erfahrungslücke
Nicht nur die Unternehmen haben wenig Krisenerfahrung, auch die Berater aufseiten der Banken haben mittlerweile fast 15 Jahre verhältnismäßig stabile Märkte erlebt. Eine ganze Beratergeneration hat wenig operative Krisenerfahrung – sie ist stark in der Investitions- und Wachstumsbegleitung, aber ungeübt im Krisenmanagement. Aufseiten der Banken muss nun also neu gelernt werden, auf Krisensituationen zu reagieren.
Der Ausblick: Noch ist Zeit zum Handeln!
Die aktuelle Krise entstand aus einer seltenen gleichzeitigen Verzahnung verschiedener negativer Effekte, von schwankenden Märkten und härterer Regulatorik bis hin zur Automatisierung der Risikobewertung. Darum ist es jetzt nicht sinnvoll, „den Schuldigen“ zu finden, sondern sinnvolle Ansätze zum Gegensteuern zu erarbeiten.
Die Insolvenzzahlen steigen weiter – nicht abrupt, sondern zunächst schrittweise, als Ergebnis von Kettenreaktionen, zum Beispiel im Bereich Automotive. Doch viele der Anzeichen auf eine negative Entwicklung können Sie frühzeitig erkennen: hohe Linienauslastungen, Engpassfinanzierungen, stockende Projekte etc. Und genau darum ist jetzt die Zeit für aktive Intervention gekommen.
Handlungsempfehlungen für Banken
Gehen Sie jetzt in den proaktiven Frühdialog, bevor die Situation eskaliert, und verzahnen Sie intern Markt‑, Marktfolge- und Risiko-Abteilungen deutlich enger miteinander. Analysieren Sie Branchen und Abhängigkeiten systematisch und gründen Sie für komplexe Fälle eigene Taskforces. Und konzentrieren Sie sich auf dokumentationsfeste, aber pragmatische Lösungen: Zwischenfinanzierung, Monitoring, temporäre Anpassungen etc.
Handlungsempfehlungen für Unternehmer
Unternehmern empfehle ich, aufgrund der aktuellen Risiken eine rollierende 13-Wochen-Liquiditätsprüfung einzuführen. Das hilft auch dabei, frühzeitig gegenüber den Hausbanken Transparenz zu schaffen. Mein Hinweis lautet in den Unternehmergesprächen: „Analysieren Sie Ihr Working Capital und optimieren Sie es konsequent – bei Bedarf kann auch externe Expertise dabei helfen. Und gehen Sie von selbst frühzeitig auf Ihren Kreditgeber offen und transparent zu! Auch wenn es heute (noch) gut aussieht.“
Wer früh handelt, kann stabilisieren!
Die Einschläge kommen näher. Aber noch haben Sie, liebe Vorstände, Führungskräfte, Berater und Risikomanager Zeit, sich vorzubereiten! Denn die Situation ist komplex, aber beherrschbar – wenn Sie jetzt konsequent damit anfangen. Stabilität entsteht durch vorausschauende Führung auf beiden Seiten: Unternehmen wie Banken. Wer früh erkennt, entschlossen priorisiert und systematisch handelt, schützt beides – und damit auch die Wirtschaft ganzer Regionen. Seien Sie sich dieser Verantwortung bewusst und nehmen Sie die Situation jetzt in die Hand, statt abzuwarten, bis die Einschläge irgendwann ins Schwarze treffen.
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Dirk Wiebusch
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