Vor Kurzem hatte ich in meiner Funktion als Gründer und Geschäftsführer des Instituts Für UnternehmerFamilien (IFUF) mal wieder ein Gespräch mit einem unserer Kunden – dem sehr erfolgreichen Familienunternehmer ging es vor allem darum, über das Wachstum seiner Firma und entsprechende Strategien zu sprechen, denn er möchte aktuell noch eine Schippe drauflegen und seiner Firma zu noch mehr Wachstum verhelfen. Um gleich mal ein Beispiel dafür zu nennen, erwähnte er, dass er neulich den größten Auftrag in der Geschichte seiner Firma erhalten habe. Und zwar nicht nur „den größten“ in puncto finanzieller Umfang, sondern auch was die Quantität – also Stückzahl – und die Qualität der georderten Produkte angeht. Also alles, was er in Zukunft stärker forcieren möchte. Sozusagen der perfekte Auftakt für die neue Wachstumsstrategie. Ein Grund zum Feiern, oder?
In der Kommunikation tauchten plötzlich Unsicherheiten auf
Ich bestärkte den Unternehmer selbstverständlich bei seiner Strategie, denn ich kenne ihn als echten Macher, der seine Firma durch eine derartige Wachstumsoffensive sicher in ganz neue Höhen katapultieren könnte. Doch ich bemerkte schnell: Zu 100 Prozent erfolgssicher scheint er sich dennoch nicht zu sein. Er wirkte, als mache er sich sogar Sorgen um den bereits unterschriebenen Auftrag.
Ich fragte also nach, warum er nicht bis über beide Ohren strahle, wo es sich doch um so eine großartige Neuigkeit handle. Daraufhin antwortete er mir, dass er mich aufgrund unserer langjährigen Zusammenarbeit und unseres sehr guten Verhältnisses gerne ins Vertrauen ziehen möchte: Er erzählte mir, dass er einige Zeit, nachdem der Auftrag bereits unterschrieben war, äußerst schlecht geschlafen habe. Daraufhin habe ich ihn gefragt, ob das an der Freude über den erfolgreichen Vertragsabschluss lag. Nein, entgegnete er mir, das habe mit all den Dingen zu tun, die ihm durch den Kopf gegangen seien: Würde er den Auftrag fristgerecht erfüllen können? Was, wenn die gewünschte Qualität doch nicht zu erreichen – oder zumindest nicht zu halten – war? Erfahrungsgemäß ist gerade Letzteres schwer, wenn gleichzeitig die Firma einem Wachstumsprozess unterzogen wird. Kurzum: Ihn plagten Selbstzweifel.
Würden Sie den Menschen kennen, von dem ich spreche, dann wären Sie jetzt total verblüfft. Denn mein Gesprächspartner ist ein typischer Macher-Unternehmer – eine Unternehmer-Typologie, die ich bereits in einigen Artikeln und Podcasts nähergebracht habe. Er ist selbstbewusst, geht zielstrebig voran und ist sich seiner eigenen Stärken sowie der Stärken seiner Firma bewusst. In seinem spezifischen Fall zählt die Firma sogar zu den Top-3-Unternehmen ihrer Branche. Und dennoch stellte er sich diese Fragen und hegte Zweifel. Ein psychologisches Phänomen, das üblicherweise als „Hochstapler-Syndrom“ bezeichnet wird.
Das Hochstapler-Syndrom: Paradoxes Phänomen unter Top-Performern
Beim „impostor syndrome“, zu Deutsch „Hochstapler-Syndrom“, hegen die betroffenen Personen massive Selbstzweifel, wenn es um ihre persönlichen Leistungen und Fähigkeiten geht. Sie sind (meist unterbewusst) davon überzeugt, dass sie ihren Erfolg nicht verdient haben. Sie hegen den Verdacht, dass die eigenen Leistungen einzig Glück oder Zufall zuzuschreiben sind. Allein der Name des Syndroms zeigt diesen psychologischen Zwiespalt bereits an, denn die Betroffenen fürchten sich davor, insgeheim „Hochstapler“ zu sein (und als solche irgendwann erkannt zu werden), obwohl ihr Erfolg objektiv betrachtet tatsächlich aus der eigenen Arbeit und den eigenen Fähigkeiten entspringt.
Das Phänomen begegnet uns immer wieder bei Top-Unternehmern und Top-Performern aus Wirtschaft, Show, Sport, Kunst und Kultur. Dabei kommt es häufig zu einem Mix aus Antrieb und Selbstzweifeln. Sprich: Ehrgeiz und der Wunsch, voranzukommen, treffen auf eine Skepsis, ob das Vorgenommene wirklich realisierbar ist. Es kommt also zu einem regelmäßigen Hin und Her zwischen Motivation und Angst.
Dieser Umstand hat nichts mit der herkömmlichen Verunsicherung zu tun – das Hochstapler-Syndrom ist ein typisches Merkmal von Erfolgsmenschen. Aus diesem Grund ist es auch entscheidend, dass Finanzberater sich dieses Syndroms bewusst sind und ihre Unternehmerkunden nach derartigen Zweifeln fragen. Denn Top-Unternehmer nutzen diese Gedankengänge („Kann ich das schaffen?“), um sich ihrer Leistungsfähigkeit bewusst zu werden und sich dazu anzuspornen, den nächsten Schritt zu gehen. Damit in Verbindung steht jedoch auch immer das Risiko eines Burn-outs, denn wer sich ständig selbst infrage stellt, läuft Gefahr, sich zu übernehmen und selbst auszubrennen. Für alle Kreditentscheider unter Ihnen – diese Zweifel sind, richtig erkannt, eben kein Problem in der Kreditvergabe, sondern Anschub! Daher bitte ich Sie, die vertrauensvolle Offenheit des Unternehmers nicht falsch einzuschätzen und unter Umständen deshalb sogar die Finanzierungen abzulehnen.
Übrigens: Ironischerweise gibt es exakt entgegengesetzt zum Hochstapler-Syndrom den sogenannten Dunning-Kruger-Effekt. Dieser tritt bei weniger kompetenten Menschen auf, die häufig dazu tendieren, ihre eigenen Fähigkeiten zu überschätzen. Zudem tun die Betroffenen sich schwer damit, überlegene Fähigkeiten bei anderen zu erkennen und wertzuschätzen. Der Dunning-Kruger-Effekt tritt also bei Personen auf, die sich selbst nie infrage stellen und nicht an sich zweifeln, da sie der festen Überzeugung sind, Experten zu sein. Anders gesagt: Viele Top-Unternehmer mit Hochstapler-Syndrom machen sich Sorgen darum, genau das zu sein, was Menschen sind, bei denen der Dunning-Kruger-Effekt greift: „Hochstapler“, die ihren Erfolg eigentlich nur Glück und Zufall oder gar Betrug zu verdanken haben.
Was kann man als Finanzberater aus diesem Gespräch mitnehmen?
Das Hochstapler-Syndrom ist nur sehr schwer zu erkennen, da gerade ambitionsgetriebene Top-Unternehmer diese vermeintliche Schwäche in der Regel nicht zeigen möchten. Denn sie haben Angst, als „Hochstapler“ bloßgestellt zu werden. Ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Finanzberater und Unternehmer ist daher enorm wichtig. Hat man dieses Vertrauensverhältnis erst einmal aufgebaut – beispielsweise durch empathische Fragen zu den ersten zehn Jahren der Kindheit (wie ich es im dritten Teil der Sommerserie des Versteher-Magazins beschrieben habe) oder den ersten fünf Jahren der Firma (wie im Artikel „11 Fragen und Sätze, mit denen Sie Unternehmer von sich überzeugen“ skizziert) – und fragt man den Unternehmer ehrlich interessiert „Welche Dinge lassen Sie nachts nicht schlafen?“, dann kann man seine Psychologie sowie sein Unternehmen tiefer durchdringen und sich auf einzigartige Weise positionieren. Ich kann Ihnen versichern: Unternehmer haben im Laufe eines Jahres nicht nur eine einzige schlaflose Nacht, es gibt für Sie also ausreichend Gelegenheit.
Allerdings sind Unternehmer durch ihr besonderes Mindset auch stets bereit, den Kampf aufzunehmen und sich anzupassen – ohne sich dabei übermäßig zu beschweren oder zu jammern. Seien Sie also feinfühlig und signalisieren Sie dem Unternehmer, dass Sie ihn wirklich verstehen. Positionieren Sie sich als einzigartiger Partner, und zwar unabhängig davon, wie groß das jeweilige Unternehmen bzw. das Firmenvermögen ist (300.000 Euro sind für einen Handwerksbetrieb genauso schwerwiegend wie 3.000.000 Euro für ein Großunternehmen). Verstehen und nutzen Sie genau solche Thematiken sowie ein Verständnis des Hochstapler-Syndroms, um bei Ihren Kunden den subjektiven Wohlfühlfaktor herzustellen – denn dieser ist häufig das Zünglein an der Waage und entscheidet über Abschluss oder Nicht-Abschluss.
Kontakt
Dirk Wiebusch
info@ifuf.de