In den vergangenen Wochen habe ich bereits mehrfach dargelegt, dass die Wirtschaftskrise bei Weitem nicht so drastisch ausfallen wird, wie es aktuell auf vielen Kanälen herbeigeredet wird. Es wird eine herausfordernde Zeit für Familienunternehmer und Finanzinstitute (sowohl in der Beratung der Unternehmen als auch der Unternehmerfamilien im Privatvermögen) werden, das steht außer Frage. Doch anstatt sich jeden Tag aufs Neue die schlimmsten Szenarien auszumalen, sage ich: Bereiten wir uns auf diejenigen Szenarien vor, die realistischerweise eintreten werden. Zum Beispiel geänderte Voraussetzungen bei der Kreditprüfung und ‑vergabe nach der kritischen Zeit Anfang 2020: Lässt sich die Kreditwürdigkeit von Familienunternehmern nach dem Sommer überhaupt noch mit Bilanzen und BWAs prüfen? Und was kann die BaFin tun, um der Finanzwirtschaft dabei unter die Arme zu greifen?
Die meisten Unternehmen werden nicht in die Insolvenz gehen
Eine häufig geteilte Vorhersage zur deutschen Wirtschaft sagt: Es wird bis Jahresende zu ungeahnt vielen Insolvenzen kommen. Um zu prüfen, ob das so stimmt, kann man zunächst einen einfachen Blick auf die Zahlen von statistischen Aggregatoren wie Statista.com werfen, um sich die Situation bis vor Corona greifbar zu machen:
Anzahl der Unternehmen
Anzahl der Firmeninsolvenzen
Wir sehen einen Anstieg von Insolvenzen in der Zeit um die globale Finanzkrise. Genau genommen kamen 2010 auf ca. 3,2 Millionen deutsche Unternehmen rund 32.280 Insolvenzen. Das bedeutet, dass etwa 1 % aller Unternehmen insolventgegangen ist. 2018, ein Jahr vor dem ersten Auftreten von Corona, waren es bei ca. 3,3 Millionen Unternehmen nur noch 19.552 Insolvenzen. Also mit 0,6 % nur noch etwa halb so viele wie in der zehn Jahre zurückliegenden Krise. Und eines wird ganz deutlich: Insolvenzen gab es schon immer – sowohl vor der aktuellen Situation als auch vor der Finanzkrise.
Wenn Sie jetzt bedenken, dass Experten aktuell für 2020 von etwa 50.000 zu erwartenden Insolvenzen ausgehen und wir noch immer bei etwa 3,3 Millionen Unternehmen stehen, dann erreichen Sie einen Wert von 1,5 % Insolvenz-Anteil an der Gesamtanzahl der Unternehmen für dieses Krisenjahr. Das ist natürlich keine positive Entwicklung. Aber auch kein unüberwindbarer Anstieg. Verdeutlichen wir uns die Verhältnisse:
- 2010: 2 von 200 Unternehmen werden insolvent
- 2018: 1 von 200 Unternehmen wird insolvent
- 2020: 3 von 200 Unternehmen werden insolvent
Und hier haben wir noch nicht einmal mit eingerechnet, dass nicht jedes Unternehmen, das Insolvenz beantragt, dann auch tatsächlich in die Insolvenz geht. Und von letzteren Unternehmen gehen dann auch nicht alle komplett vom Markt weg. Diese Erkenntnis hilft, einen besseren Eindruck von der Gesamtsituation zu erhalten.
Wie werden sich die Kundengespräche der nahen Zukunft ändern?
Auch wenn die Situation nicht so düster ist, wie sie aktuell aussieht, sollte man sich als Finanzdienstleister darauf einstellen: Kundengespräche der nahen Zukunft werden auf jeden Fall davon beeinflusst werden, wie es das Unternehmen durch die Krise geschafft hat. Grob kann man fünf Arten von Kunden unterscheiden:
- „Feuerwehr“-Unternehmen, die direkt unterstützt werden mussten, um überhaupt durch die Krise zu kommen
- „angebrannte“ Unternehmen, die in einem geringeren Maße unterstützt werden mussten
- „leicht angebrannte“ Unternehmen, die sich mit Eigenkapital löschen konnten und jetzt mit ihrer Bank über die Zukunft sprechen möchten (und ggf. die Privateinlagen über Kredite wieder aus dem Unternehmen nehmen wollen)
- „schwelende“ Unternehmen, die einen sehr langen Auftrags- und Produktionsvorlauf hatten und jetzt erst merken, dass sie Hilfe brauchen, da ihnen nun die Aufträge wegbrechen oder Kunden sich noch weiter zurückhalten (ggf. auch aus Ländern, die noch keinen Lockerungen haben)
- „unverbrannte“ Unternehmen, die ohne größere Probleme durch die Krise gekommen sind, aber jetzt Zukunftsinvestitionen tätigen möchten
Zunächst ist es also angebracht, die eigenen Kunden grob in diese 5 Typen einzuteilen, um ein Verständnis für die nahe Vergangenheit der Firma zu bekommen – sowie für die aktuelle Motivation des Unternehmens, mit seinen Finanzberatern sprechen zu wollen. Denn prinzipiell erwarten alle diese Unternehmen dasselbe: eine Finanzspritze. Doch wie nötig sie diese haben, ist von Typ zu Typ unterschiedlich und als Berater ist es wichtig, diese Unterschiede im Kopf zu behalten.
Die Kreditvergabe der nahen Zukunft – ein Beispiel
Haben Sie nun also das Ihnen gegenübersitzende Unternehmen und seine Motivation identifiziert, kann es an die Kreditvergabe gehen. Doch dieser Prozess wird in naher Zukunft anders aussehen als bislang. Ich möchte das an einem Beispiel verständlich machen:
Stellen Sie sich vor, Sie sitzen Mitte oder Ende Oktober 2020 einem Familienunternehmer gegenüber, der mit Ihnen über Investitionen ab 2021 sprechen möchte. Seine nähere Vergangenheit sieht dann beispielsweise so aus:
- Sein Geschäftsmodell war 2019 wie auch davor solide
- Anfang 2020 hat die Corona-Krise sein Unternehmen getroffen
- Er konnte mit den üblichen Maßnahmen (Kurzarbeit etc.) ganz gut über die letzten Monate kommen
- Für zukünftige Investitionen erhofft er sich nun von Ihrem Institut einen Kredit über 1 Million Euro
Jetzt stellt sich für Sie die Frage: Auf Basis welchen Datenmaterials sollen wir nun eigentlich über die Kreditvergabe entscheiden? Bislang wäre es üblich gewesen, die Bilanzen von 2018 und 2019 sowie die BWA bis 30.09.2020 zu prüfen. Andererseits haben einige Institute in der Vergangenheit erkannt, dass es für Unternehmer verständlicherweise irritierend sein kann, wenn zur Kreditentscheidung Bilanzen von vor 2 Jahren hinzugezogen werden. Schließlich kann sich in der Wirtschaft kurzfristig einiges ändern und so manchem Unternehmen, das vor 2 Jahren noch echte Probleme hatte, gelingt kurz darauf der große Durchbruch – warum also eine 2 Jahre alte Bilanz zu Rate ziehen? Einige Institute sahen daher ältere Bilanzen schon in 2019 als wenig aussagekräftig an und konzentrierten sich stattdessen auf die Aussichten für den zukünftigen Cashflow. Sie analysieren also vermehrt das Unternehmen, sein Geschäftsmodell und seine Zukunftschancen.
Beide Herangehensweisen hätten eigentlich ihre Legitimation – wäre da nicht das erste Halbjahr dazwischengekommen. Plötzlich passt kein Datensatz mehr auf den nächsten. Und alles, was im Unternehmen seit 2019 passiert ist, liegt völlig außerhalb der Norm:
- Plötzliche Einführung von Kurzarbeit
- Materialbestand passt nicht richtig
- Personalkosten schwanken stark
- Cashflow passt nicht zu 2019
- Leasing/Mietraten wurden ausgesetzt
- Ungewöhnliche Umsätze tauchen auf (z.B. Verkauf von Schutzmasken)
- Der Unternehmer musste vermehrt Eigenkapital ins Unternehmen stecken, was sein Privatvermögen außerordentlich beeinflusst hat
Die Daten, die das Unternehmen für den Zeitraum Januar bis Anfang Oktober 2020 liefern kann, haben also überhaupt nichts mehr damit zu tun, wie das Unternehmen wirklich funktioniert – und auch bis zum 31. Dezember 2019 funktioniert hat. Sie wurden durch eine Sondersituation verfälscht. Und Institut, Vorstand sowie auch Sie als Finanzberater werden nun also vor die Aufgabe gestellt, auf Basis dieser völlig unzusammenhängenden und unrepräsentativen Daten über die Parameter der Kreditvergabe zu entscheiden.
Im Rahmen der bisherigen Rating-Prozesse würde eine solche Anomalie dazu führen, dass selbst Top-Unternehmen mutmaßlich als Risikokunden gehandelt werden. Und das bedeutet ungünstigere Kreditbedingungen, höhere Preise, mehr einzufordernde Sicherheiten und viele weitere Hürden. Jetzt stellen Sie sich vor, wie sich ein Unternehmer dabei fühlt, wenn er seine Firma mit viel Schweiß und Tränen erfolgreich durch die Krise gelotst hat und „irgend so ein Schreibtischhengst“ ihn wie einen Abstiegskandidaten behandelt – nur, weil die Zahlen nicht passen.
Ein Appell an die BaFin
Meiner Einschätzung nach wird es aus diesem Grund notwendig werden, die Kreditvergabeprozesse ab sofort und bis mindestens Ende 2021 (!) umzugestalten. Denn die verzerrten Zahlen können dafür sorgen, dass einem als Finanzdienstleister das gesamte Kredit-Portfolio auf die Füße fällt, wenn bislang gute und sehr gute Kredite nach BaFin-Richtlinien plötzlich mit wesentlich mehr Kapital abgesichert werden müssen, weil auf dem Papier die Zahlen nicht stimmen. Damit werden sich die Kreditrichtlinien nicht nur für solche Firmen verschlechtern, die tatsächlich von Insolvenz bedroht sind, sondern auch für viele gesunde Unternehmen, die während der Krise mit kreativen Ideen die deutsche Wirtschaft am Laufen gehalten haben.
Deshalb wäre es jetzt wichtig, dass die BaFin ihre Regularien anpasst. Finanzdienstleister müssen mehr Freiheiten bei der Kreditvergabe bekommen! Denn jetzt stur an den Zahlen festzuhalten, würde bedeuten, dass erst Ende 2021 die ersten „sauberen“ Bilanzen vorliegen (fertiggestellt im Frühjahr 2022), die die aktuelle Situation der Betriebe unverfälscht darstellen. Doch finanzielle Unterstützung brauchen diese Unternehmen eben schon jetzt. Sie können nicht darauf warten, bis die Zahlen für die Bundesaufsicht wieder stimmen. Und die Finanzinstitute sind bereit, jetzt der Wirtschaft unter die Arme zu greifen – wenn sie es regulatorisch nur könnten.
Wie kann man sich als Dienstleister an die geänderte Situation anpassen?
Spätestens ab dem Herbst 2020 wird diese Kombination aus unverlässlichen Zahlen und unrealistischen Regulationen eine große Herausforderung für Finanzdienstleister werden. Denn ob die BaFin bis dahin schon ihre Vorschriften abgeschwächt hat, ist fraglich. Im schlechtestmöglichen Fall wird sie überhaupt keine Lockerungen durchsetzen – Finanzdienstleister und Unternehmer müssen sich dann bis Ende 2021 gedulden, bis die „neue Normalität“ auch den Kreditsektor erreicht hat. Vermutlich wird dann erst 2023 oder 2024 wieder alles vollständig beim Alten sein, wenn die Bilanzen wieder die tatsächliche wirtschaftliche Situation der Unternehmen widerspiegeln.
Meiner Einschätzung nach ist es deshalb für Finanzdienstleister wichtig, zumindest in dieser Übergangszeit die Kreditvergabe neu zu denken und entsprechend neue Prozesse dafür zu etablieren.
1. Firmenkundenberatung – der Blick in die Zukunft
Stärker als vor der Krise bietet es sich für Finanzdienstleister an, die Vision des Unternehmers sowie seine Strategien für deren Umsetzung genau zu analysieren. So kann eine Entscheidung zur Kreditvergabe effektiv davon abhängig gemacht werden, wie die Zukunftsaussichten des Unternehmens sind und zum Beispiel wie stabil das Geschäftsmodell und die Wertschöpfungskette sind – statt nur die (verfälschten) Zahlen der letzten Monate als Grundlage zu nehmen.
2. Auch im Private-Banking-Bereich die Zukunft bedenken
Dieser Blick auf die Zukunft ist auch für Private-Banking-Berater (PBB) wichtig, denn während der Krise haben viele Unternehmer so viel Eigenkapital in ihre Unternehmen gesteckt, dass sie auf dem Papier wie arme Kirchenmäuse wirken können. Dementsprechend ist natürlich auch das reale Eigenkapital stärker davon abhängig, wie es dem Unternehmen in Zukunft ergehen wird. Beachten Sie diesen Umstand und lassen Sie auch die Frage danach, wie der Unternehmer eigentlich tickt, in Ihre Beurteilung einfließen. Das erleichtert sowohl die Vergabeprozesse als auch die Gespräche mit dem Unternehmer. Mehr Details und weitere nützliche Tipps können Sie in diesem Artikel finden.
3. Die Marktfolge der Zukunft
Der Bereich der Marktfolge ist vergleichsweise stark davon abhängig, dass die BaFin in diesen Krisenzeiten ihre Regularien anpasst. Denn wenn die Marktfolge beispielsweise versucht, die bereits in meinem Artikel von 2018 vorgestellte Denkweise zur Kooperation mit Familienunternehmen [LINK Quo Vadis Marktfolge] umzusetzen, wird sie schnell feststellen, dass die in der aktuellen Zeit aufgrund der BaFin-Regularien nicht umzusetzen ist. Denn wenn Firmenkundenberater (FKB) oder Private-Banking-Berater (PBB) mit dem Unternehmer Abmachungen treffen, die hinterher aufgrund von externen sowie internen Regularien oder einer nicht anpassungsfähigen EDV-Systematik nicht umgesetzt werden können, dann kann dies die gesamte Beziehung zum Unternehmer gefährden.
4. Tipps zur Tandem-Beratung FKB und PBB
In der Krise sind der subjektive Wohlfühlfaktor und eine Kommunikation auf Augenhöhe äußerst wichtig für Unternehmer, denn das gibt ihnen Vertrauen in die Zusammenarbeit. Arbeiten Sie also noch enger als zuvor zusammen und beginnen Sie so früh wie möglich mit der Face-to-Face-Kommunikation mit dem Kunden. Glauben Sie mir: Die Unternehmer vermissen diese Gespräche am meisten.
5. Die Tandem-Beratung FKB und Marktfolge
Auch dieses Tandem profitiert davon, jetzt so schnell wie möglich wieder so eng wie nötig zusammenzuarbeiten. In dieser Konstellation wird es vor allem wichtig sein, zu klären, wie im Hinblick auf die vor 2020 erstellten Risikostrategien des eigenen Instituts mit zukünftigen Investitionsanfragen umgegangen werden soll. So lässt sich eine klare Marschrichtung für die Zeit identifizieren, in der die reinen Zahlen zur Kundenbeurteilung nicht geeignet sind.
6. Die Trio- und Quartett-Beratung
Sobald sich die Tandems untereinander abgesprochen haben, kann auch die Trio-Beratung wieder einsetzen. Und danach, nach Notwendigkeit, die Quartett-Beratung mit zusätzlichen Spezialisten je nach Kunde.
7. Kundenkonferenzen
Wurden all diese Schritte sauber durchgearbeitet, können schließlich auch wieder Kundenkonferenzen organisiert werden. Da hier alle Berater zusammenkommen und gemeinsame, individuelle Kundenstrategien entwickeln, ist jedoch zu raten, damit auf jeden Fall zu warten, bis alle involvierten Berater sich auf kleinerer Ebene (im Tandem, Trio oder Quartett) besprochen haben. So kann von einer gemeinsamen Ausgangsbasis aus gearbeitet werden.
Aus der Krise in den subjektiven Wohlfühlfaktor
Stellen Sie sich vor, Sie mussten unvorhergesehen große Mengen Ihres eigenen Vermögens in Ihr Unternehmen stecken, Kurzarbeit durchsetzen, Investitionen aufschieben und generell um Ihr Lebenswerk bangen. Jetzt können Sie sicher nachvollziehen, dass der subjektive Wohlfühlfaktor – das Gefühl, bei einem Institut gut aufgehoben zu sein – aktuell für Familienunternehmer extrem wichtig ist. All die von mir vorgestellten Maßnahmen zielen letztlich darauf, diesen subjektiven Wohlfühlfaktor für die Zukunft zu stabilisieren und auszubauen. Zeigen Sie Ihren Kunden, dass diese für Sie eben nicht nur aus (verfälschten) Zahlen bestehen, und Sie werden sich spätestens 2021 wieder mit einer Beratung von Mensch zu Mensch differenziert auf dem Markt positionieren und effektiv von der Konkurrenz absetzen.
Kontaktieren Sie mich jetzt für ein unverbindliches Gespräch zur Umsetzung derartiger Maßnahmen in Ihrem Institut!
Kontakt
Dirk Wiebusch
info@ifuf.de